Ius civile

Das ius civile war im römischen Recht die Gesamtheit allen Privatrechts unter Einbezug des Prozess- und Strafrechts. Es galt bis zum Inkrafttreten der Constitutio Antoniniana im Jahr 212 n. Chr. unter Kaiser Caracalla mit wenigen Ausnahmen ausschließlich für römische Bürger.[1]

Begriff

Ius civile setzte sich aus verschiedenen Rechtsstrukturen und Beteiligten zusammen und war der Sammelbegriff für die mores, also hergebrachtes[2] Gewohnheitsrecht der altzivilen Rechtsordnung, eingeschlossen das Zwölftafelgesetz.[3] Um besonders im vorklassischen Recht der Republik neue Regeln des ius civile einzuführen, wurden Volksgesetze (leges) verabschiedet,[1] denen folgend Plebiszite, mithin Beschlüsse des concilium plebis, einer Versammlung der Plebejer, Angehörige des einfachen Volkes. In der Kaiserzeit waren die Mittel zur Einführung von Regeln die Senatsbeschlüsse. Besondere Bedeutung kam den Autoritäten des klassischen Juristenrechts zu. Mittels des vom Kaiser eingeräumten ius respondendi durften wenige Juristen auf Rechtsfragen durch rechtsverbindliche Gutachten (so genannte responsa und digesta) antworten. Responsa ergingen nicht mehr mündlich wie in Zeiten der Republik, sondern waren Gegenstand schriftlicher Vertiefung und differenzierter, häufig streitiger, Argumentation. Im Übrigen standen die Maßnahmen unter kaiserlichem Vorbehalt. Er erließ die Kaiserkonstitutionen (constitutiones). Im Bereich der allgemeinen Anordnungen waren das die edicta und mandata, letztere Dienstanweisungen an Beamte. Waren die Streitgegenstände einzelfallrechtlicher Natur, operierte der Kaiser mit rescripta, das waren Rechtsauskünfte auf bürgerliche Anfragen, und mit decreta, höchstkaiserlichen Gerichtsentscheidungen. Auch diese Kompetenzen waren Bestandteil der Durchsetzung von ius civile.[4]

Abgrenzungen (Rechtsschichten)

Dem ius civile, das als starr und formalistisch galt, stand das ius honorarium gegenüber, das die Wahrnehmung von Interessen und Einzelfallgerechtigkeit – (vornehmlich) auf Grundlage von prätorischen Edikten – realisierte (aequitas). Im Idealfall ergänzte und bereicherte[5] es das ius civile, im kontroversen Fall trat es mit ihm in Konflikt. Ähnlich war das Verhältnis zum ius gentium, welches für alle Menschen galt, also für Römer und Perigrine (Reichsfremde).[1] Ius gentium und ius naturale wiederum formulierten Vorgaben der Rechtsanwendung, waren inhaltlich weit gefasst und durch ihre Offenheit philosophischen Wertungen zugetan.[6] Aufgrund der im Laufe der Jahrhunderte eingetretenen Ununterscheidbarkeit der Begriffe durch Interferenzen in der Sache einerseits und der gleichzeitigen Konfliktträchtigkeit durch die Gegensatzbildung andererseits, beendete Diokletian in der frühen Spätantike das Nebeneinander der Rechtsschichten. Er gab die iura honorarium und gentium preis. Der methodisch begründete Begriff „Rechtsschicht“ geht auf die deutsche Forschung der Mitte des 20. Jahrhunderts zurück (Max Kaser, Wolfgang Kunkel).[7]

Im gegenwärtigen rechtswissenschaftlichen Sprachgebrauch steht der Begriff ius civile für das spezifische Zivilrecht eines bestimmten Landes und besteht als solches vor allem in Form von nationalen Gesetzen, als kodifiziertes positives Recht. In Abgrenzung dazu umfasst das ius gentium in der heutigen Sichtweise die Rechtsnormen, die den Rechtssystemen aller Völker gemeinsam sind und deshalb auch als „Recht aller Menschen“ oder als Völkergemeinrecht bezeichnet werden.

Literatur

  • Max Kaser: Zur Methode der römischen Rechtsfindung, in: Akademie der Wissenschaften in Göttingen: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 1962 / Nr. 2, S. 47–78 (jetzt in: Max Kaser: Ausgewählte Schriften, I Pubblicazioni della Facoltà di Giurisprudenza della Università di Camerino, 1976. S. 3–34.
  • Max Kaser: Zur Problematik der römischen Rechtsquellenlehre, in: Festschrift für Werner Flume zum 70. Geburtstag, 12. September 1978, Band I, S. 101–123 (jetzt in Max Kaser: Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode. Ausgewählte, zum Teil grundlegend erneuerte Abhandlungen), 1986. S. 9–41.
  • Ulrich von Lübtow: De iustitia et iure, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung). Band 66, Heft 1, 1948, S. 458–565.
  • Dieter Nörr: Rechtskritik in der römischen Antike. Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1974, ISBN 3-7696-0072-X.
  • Moriz Wlassak: Kritische Studien zur Theorie der Rechtsquellen im Zeitalter der klassischen Juristen, Leuschner & Lubensky, Graz, 1884. (online)

Einzelnachweise

  1. a b c Herbert Hausmaninger, Walter Selb: Römisches Privatrecht. Böhlau Verlag, Wien 1981 (9. Auflage 2001) (Böhlau-Studien-Bücher), ISBN 3-205-07171-9, S. 29 f.
  2. Von consuetudo wird regelmäßig erst ab dem Beginn des 3. Jahrhunderts gesprochen (Rechtsausweitung durch die Constitutio Antoniniana), vgl. Filippo Gallo: Interpretazione e formazione consuetudinaria del diritto, 1993, S. 72 ff.
  3. Heinrich Honsell: Römisches Recht. 5. Auflage, Springer, Zürich 2001, ISBN 3-540-42455-5, S. 20.; Jan Dirk Harke: Römisches Recht, (Von der klassischen Zeit bis zu den modernen Kodifikationen). Verlag C.H. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57405-4, § 1 Rnr. 8 (S. 8).
  4. Emanuele Stolfi, in: Ulrike Babusiaux, Christian Baldus, Wolfgang Ernst, Franz-Stefan Meissel, Johannes Platschek, Thomas Rüfner (Hrsg.): Handbuch des Römischen Privatrechts. Mohr Siebeck, Tübingen 2023. ISBN 978-3-161-52359-5. Band I, S. 56–59.
  5. Emanuele Stolfi, in: Ulrike Babusiaux, Christian Baldus, Wolfgang Ernst, Franz-Stefan Meissel, Johannes Platschek, Thomas Rüfner (Hrsg.): Handbuch des Römischen Privatrechts. Mohr Siebeck, Tübingen 2023. ISBN 978-3-161-52359-5. Band I, S. 59–64.
  6. Ulrike Babusiaux, in: Ulrike Babusiaux, Christian Baldus, Wolfgang Ernst, Franz-Stefan Meissel, Johannes Platschek, Thomas Rüfner (Hrsg.): Handbuch des Römischen Privatrechts. Mohr Siebeck, Tübingen 2023. ISBN 978-3-161-52359-5. Band I, S. 118 f.
  7. Ulrike Babusiaux, in: Ulrike Babusiaux, Christian Baldus, Wolfgang Ernst, Franz-Stefan Meissel, Johannes Platschek, Thomas Rüfner (Hrsg.): Handbuch des Römischen Privatrechts. Mohr Siebeck, Tübingen 2023. ISBN 978-3-161-52359-5. Band I, S. 117.