Lufthansa-Flug 540

Lufthansa-Flug 540

Die Hessen im Jahr 1970 am Flughafen Nürnberg

Unfall-Zusammenfassung
Unfallart Strömungsabriss beim Start wegen nicht ausgefahrener Auftriebshilfen
Ort Flughafen Nairobi
Datum 20. November 1974
Todesopfer 59
Überlebende 98
Luftfahrzeug
Luftfahrzeugtyp Boeing 747-130
Betreiber Lufthansa
Kennzeichen D-ABYB
Name Hessen
Abflughafen Deutschland Flughafen Frankfurt
Zwischenlandung Kenia Nairobi Embakasi Airport
Zielflughafen Sudafrika 1961 Flughafen Johannesburg
Passagiere 139
Besatzung 18 (2 Piloten, 1 Flugingenieur, 14 reguläre Flugbegleiter, 1 Mickey Mouse Stewardess für die Kinderbetreuung)
Listen von Luftfahrt-Zwischenfällen

Lufthansa-Flug 540 war ein Linienflug der Lufthansa von Frankfurt nach Johannesburg mit einer Zwischenlandung in Nairobi. Am 20. November 1974 stürzte die eingesetzte Boeing 747-130 kurz nach dem Start vom Nairobi Embakasi Airport (seit 1978 Jomo Kenyatta International Airport) aus geringer Höhe ab, wobei 59 der 157 Insassen ums Leben kamen. Von den 98 Überlebenden wurden rund 70 körperlich nur leicht verletzt.[1]

Flugzeug

Die vierstrahlige Boeing 747 mit der Werknummer 19747/29 wurde am 13. April 1970 mit dem Luftfahrzeugkennzeichen D-ABYB neu an die Lufthansa ausgeliefert, die ihr den Taufnamen Hessen gab.[2] Der „Jumbo-Jet“ war die zweite an Lufthansa ausgelieferte 747 und zum Unfallzeitpunkt viereinhalb Jahre alt.

Unfallverlauf

Nach einem Wechsel der Besatzung sollte Flug 540 kurz vor 8 Uhr morgens Ortszeit in Nairobi unter der Führung von Flugkapitän Christian Krack in Richtung Johannesburg starten. Um 07:52 Uhr Lokalzeit erhielt die "Hessen" vom Tower in Nairobi die Startfreigabe. Die fliegerische Abwicklung der Strecke oblag dem Kopiloten Hans-Joachim Schacke. An der Konsole des Bordingenieurs rechts hinter den Piloten saß Rudi Hahn. Das Abfluggewicht der 747 lag bei 254 Tonnen und damit weit unterhalb des maximalen Abfluggewichts. Wie der österreichische Luftfahrtexperte Patrick Huber[3] in seinem Buch "Lufthansa Flug 540: Der erst Jumbo-Absturz" schreibt, betrug "das maximale Startgewicht (MTOW) der ,Hessen' an diesem Tag theoretisch rund 284.000 Kilogramm". Damit lag das Startgewicht rund 30 Tonnen unter dem maximal zulässigen Abfluggewicht an diesem Tag.[4]

Der Startlauf des Flugzeuges mit einer reduzierten Triebwerksleistung der Stufe 3A und einer gesetzten Triebwerksleistung von 1.46 EPR (mit 159 Menschen an Bord war die "Hessen" nicht einmal zur Hälfte besetzt) verlief normal, ebenso die Beschleunigung auf der Piste.[5]

Doch gleich nach dem Abheben von Runway 24 "bemerkt der steuernde Pilot Schacke, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Die Maschine will einfach nicht mehr weiter beschleunigen. Mehr als 146 Knoten ‒ 2 Knoten unterhalb von V2 ‒ erreicht sie nicht. Und anstatt wie üblich mit 1.500 bis 1.800 Fuß pro Minute und sich stetig erhöhender Geschwindigkeit, steigt die ,Hessen' mit gerade einmal 450 Fuß pro Minute und die Geschwindigkeit geht auf 145 Knoten zurück, verharrt zunächst bei diesem Wert. Dabei sollte sie eigentlich innerhalb weniger Sekunden V2, 148 Knoten, erreichen. Anstatt die Nase, wie ursprünglich geplant, weiter auf 14 Grad anzuheben, senkt Schacke sie ab, um Steigrate und Geschwindigkeit zu erhöhen, doch der Jumbo will weder so recht steigen noch beschleunigen", schreibt Experte Huber, der 10 Jahre lang zu dem Fall recherchiert und unzählige Aktenseiten aus dem Bundesarchiv in Koblenz ausgewertet hat, dazu in seinem Buch.

Acht bis neun Sekunden nach dem Abheben stellen sich heftige Vibrationen ein, auf die der Kommandant seinen Ersten Offizier aufmerksam macht. Im ersten Moment vermuten die Männer Probleme mit den Triebwerken, möglicherweise einen Vogelschlag, doch die Instrumente sind alle im grünen Bereich, wie eine Überprüfung durch den Bordingenieur ergibt.[6] Der steuernde Erste Offizier verringert den Anstellwinkel des Flugzeuges.

Kapitän Krack vermutet nun wohl eine Unwucht durch das Fahrwerk als Ursache der Vibrationen und fährt es eigenmächtig ein. Doch weil sich dadurch erst einmal die Klappen der Fahrwerksschächte öffneten, wurde zusätzlicher Widerstand erzeugt, der die Sinkrate des Flugzeuges in dieser geringen von Höhe von gerade einmal 100 Fuß Höhe (etwa 30 Meter) sogar erhöht.[7]

Der das Flugzeug führende Copilot Schacke kann die Maschine deswegen nicht in der Luft halten. 1120 Meter hinter dem Ende der Startbahn kam es zur ersten Bodenberührung, ca. 100 Meter weiter begann die Maschine auseinanderzubrechen. Der hintere Teil des Flugzeugs brach hinter der Flügelwurzel, etwa zwischen Tür 3 und 4, infolge des Aufschlags mit hohem Winkel ab. 454 Meter nach dem ersten Bodenkontakt kommt die "Hessen" um 07:54 Uhr Lokalzeit zum Stillstand.[8]

Durch die Reibungshitze, große Treibstoffmengen in den darunterliegenden Tanks und die heißen Triebwerksdüsen an den Tragflächen fing die hintere Sektion zuerst Feuer. Nahezu keine der Personen in dieser Sektion überlebte. Die vordere Hälfte der Maschine überstand den Aufschlag mit deutlich geringeren Schäden, was fast allen dort befindlichen Passagieren die Flucht über Notrutschen oder sonstige Öffnungen im Flugzeugrumpf ermöglichte, ehe der Rumpf ein Opfer der Flammen wurde. In der Hauptsache kam es hier zu Rückenverletzungen infolge des Aufschlags. Das Oberdeck mit dem Cockpit der 747 und der Bordbar, in der sich während der Startphase niemand aufhalten durfte, brach beim Aufschlag auf das Unterdeck durch, verletzte dort aber niemanden.[9] Kommandant und Flugingenieur konnten weder die Notausstiegsluke im Cockpitdach noch die Crewservicetür im Oberdeck (dort gab es eine Notrutsche) öffnen und sprangen hinter dem Cockpit durch die Trümmer (die Treppe war blockiert) ins Unterdeck. Dann krochen sie durch Löcher im Rumpf ins Freie. Der noch im Cockpit befindliche Erste Offizier schaffte es schließlich, die Notausstiegsluke im Dach der "Hessen" zu öffnen und seilte sich inmitten der Flammen, die rund um das Flugzeug loderten, rund 9 Meter in die Tiefe ab.[10]

Ursachen und Folgen

Als Unfallursache wurde das Nichtausfahren der Krügerklappen festgestellt. Diese Auftriebshilfen hätten zu deutlich mehr Auftrieb in der Startphase geführt. Obwohl der Wahlhebel auf Ausfahren stand, verblieben die Vorflügel in der eingefahrenen Position, da das separat zu aktivierende, pneumatische Ausfahrsystem von der Besatzung nicht aktiviert worden war. In der Kürze der Zeit wurde dieser Fehler nicht bemerkt. Die Schuld wurde letztendlich auf Lufthansa (wegen des inkorrekten Abarbeitens der Checklisten durch die Besatzung) und Boeing (wegen der nicht ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen gegen Fehlbedienung) verteilt.

Als Folge dieses Unfalls hat Boeing ein Warnsignal eingeführt und das Ausfahren der Krügerklappen an die Bedienung der Schubregler gekoppelt, sodass die Hochauftriebsklappen nur zusammen mit den Slats bedient werden können.

Die Lufthansa warf dem 53-jährigen Kapitän und dem 50-jährigen Flugingenieur Rudi Hahn schwere Bedienungsfehler vor. Beide wurden fristlos gekündigt, ein Arbeitsgericht hob die Kündigung aber auf, weil zum Zeitpunkt der Kündigung kein offizieller Untersuchungsbericht vorlag, der einen technischen Defekt hätte ausschließen können.[11]

Ein Strafverfahren wurde nur gegen den Flugingenieur eingeleitet, der möglicherweise einen Zapfluftschalter falsch bedient haben sollte. Der Prozess endete 1981 mit einem Freispruch für Hahn.[12]

Trotz des Unfalls und der damit folgenden Imageschäden für den Flugzeugnamen Hessen vergab die Lufthansa diesen wieder an eine Boeing 747-400, die 1998 abgeliefert wurde.[13] Das Luftfahrzeugkennzeichen D-ABYB hat die Lufthansa hingegen nicht mehr für eine Maschine beim Luftfahrt-Bundesamt beantragt, obwohl die Buchstabenfolge D-ABY… bei der Einführung der Version 747-8 verwendet wurde.[14]

Allerdings ist bis heute umstritten, ob die Besatzung tatsächlich einen Fehler begangen hat. Denn bereits im Vorfeld des Absturzes der "Hessen" war es bei anderen Jumbo-Betreibern immer wieder zu Problemen mit den Vorflügeln gekommen. British Airways und KLM rüsteten deshalb ihre Boeing 747 mit einem nicht verpflichtenden zusätzlichen Warnsystem für die Stellung der Vorflügel aus, Lufthansa tat dies nicht. 2014 deckte der deutsche Investigativjournalist und Jurist Jens M. Lucke zudem auf, dass British Airways die Lufthansa fünf Monate vor dem Absturz der "Hessen" zu einem Meeting nach London eingeladen und über die Probleme mit den Vorflügeln informiert hatte. Und erst zwei Monate vor dem Absturz von Lufthansa Flug 540 in Nairobi gab es bei Lufthansa einen ernsten Zwischenfall: Obwohl die Kontrollleuchten für die Vorflügel "grün" (ausgefahren) anzeigten, waren die Vorflügel tatsächlich nicht ausgefahren. Nur weil der sehr erfahrene Check-Kapitän den Anzeigen misstraute und einen Blick aus dem Fenster machte, wurde dieser Umstand noch vor dem Start bemerkt. Auch Boeing selbst räumte im Zuge der Unfalluntersuchung ein, dass die Anzeige für die Stellung der Vorflügel manchmal fehlerhaft sein konnte.[15]

Siehe auch

Literatur

  • Luftfahrt: Grün oder gelb. In: Der Spiegel. Nr. 8, 1979, S. 62–64 (online). 
  • Lufthansa Flug 540: Der erste Jumbo-Absturz, 2024, Epubli, Berlin, ISBN 978-3-759875-25-9
  • Mit viel Mut und Traurigkeit. In: Der Spiegel. Nr. 51, 1981, S. 82–84 (online). 
  • jh-reisen.de: Fotoseite mit Fotos der Unfallstelle
  • Flugunfalldaten und -bericht im Aviation Safety Network (englisch)
  • Tankstopp in den Tod – Der letzte Start der „Hessen“. Austrian Wings, 20. November 2014, abgerufen am 21. Dezember 2014. 

Einzelnachweise

  1. Patrick Huber: Lufthansa 540: Der erste Jumbo-Absturz. Epubli, Berlin 2024, ISBN 978-3-7598-7525-9. 
  2. Boeing 747 – MSN 19747. airfleets.net, abgerufen am 2. März 2014 (englisch). 
  3. Der rasende Reporter. Abgerufen am 16. September 2024. 
  4. Patrick Huber: Lufthansa Flug 540: Der erste Jumbo-Absturz. Epubli, Berlin 2024, ISBN 978-3-7598-7525-9, S. 39, 46. 
  5. Patrick Huber: Lufthansa 540: Der erste Jumbo-Absturz. Epubli, Berlin 2024, ISBN 978-3-7598-7525-9, S. 46–48. 
  6. Patrick Huber: Lufthansa Flug 540: Der erste Jumbo-Absturz. Epubli, Berlin 2024, ISBN 978-3-7598-7525-9, S. 49. 
  7. Patrick Huber: Lufthansa Flug 540: Der erste Jumbo-Absturz. Epubli, Berlin 2024, ISBN 978-3-7598-7525-9, S. 97. 
  8. Patrick Huber: Lufthansa Flug 540: Der erste Jumbo-Absturz. Epubli, Berlin 2024, ISBN 978-3-7598-7525-9, S. 53. 
  9. „Tankstopp in den Tod“, Austrian Wings, 20. November 2014, abgerufen am 6. September 2016.
  10. Patrick Huber: Lufthansa Flug 540: Der erste Jumbo-Absturz. Epubli, Berlin 2024, ISBN 978-3-7598-7525-9, S. 56–59. 
  11. Hinweis in: Das Jahr im Bild 1975 (mit Rückblick auf Ende 1974), Carlsen Verlag, Hamburg 1975, S. 9.
  12. Mit viel Mut und Traurigkeit. In: Der Spiegel. Nr. 51, 1981, S. 82–84 (online). 
  13. Originals vom 10. April 2015 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.lh-taufnamen.de bei lh-taufnamen.de, aufgerufen am 1. Januar 2015.
  14. Zweite Lufthansa Boeing 747-8 erreicht Frankfurt. In: Aero.de. 2. Juli 2012, abgerufen am 12. April 2019: „Bei der alphabetisch fortlaufenden D-ABY_-Registrierung ihrer neuen Jumbo-Flotte lässt Lufthansa das Kennzeichen "D-ABYB" aus. Als "Yankee Bravo" war die 747-100 "Hessen" der Lufthansa registriert, die am 20. November 1974 kurz nach einem Start in Nairobi abgestürzt war. Bei dem Unfall des Lufthansa-Flugs 540 kamen 59 der 157 Menschen an Bord ums Leben.“ 
  15. Patrick Huber: Lufthansa Flug 540: Der erste Jumbo-Absturz. Epubli, Berlin 2024, ISBN 978-3-7598-7525-9, S. 90, 105–108. 

-1.319236.9275Koordinaten: 1° 19′ 9,1″ S, 36° 55′ 39″ O